Liebe Gemeinde,
eine gedrängte Szene ist im letzten Segment des Retabels zu sehen. In der Farbwahl dominieren „rot“ und „grün“. Grün ist der Sarg, in den der Leichnam Jesu gelegt wird, rot der Sargdeckel. Auch die einzelnen Personen sind rot und grün gekleidet. Rot ist die linke Säule, die das siebte Segment, das die Grablegung zeigt, von der Szene der Kreuzabnahme trennt.
Die Farben, die der Maler verwendet, setzen einen deutlichen Akzent und tragen die Botschaft des Bildes mit. Rot ist die Farbe des Leidens: Symbolfarbe des Todes, den Jesus gestorben ist. Grün die Farbe des Lebens, die Farbe der Hoffnung, die durch die Auferstehungsbotschaft in den Gläubigen aufkeimt. Wenden wir uns nun nach diesen ersten allgemeinen Eindrücken zur Farbgestaltung den Personen zu. Zum Teil sind die im Bild dargestellten Personen eindeutig identifizierbar, zum Teil aber auch nicht. Rechts im Bild ist Josef von Arimathäa dargestellt. Er ist von allen Figuren die kleinste und - so will es der Retabel-Maler wohl sagen - die unbedeutendste. Er hat allenfalls eine Hilfsfunktion für das dargestellte Geschehen. Nach den Berichten der Evange-listen ist es dieser Josef von Arimathäa, der Pontius Pilatus darum bittet, ihm den Leichnam zu überlassen, damit er ihn den Gebräuchen der Juden gemäß bestatten kann. Das Grab, was er sich selbst zugedacht hatte und was in seinem Besitz war, wird nun für drei Tage das Grab Jesu. Das Rot seines Gewandes ist das schwächste im gesamten letzten Retabelsegment, auch das - neben der geringen Bildgröße, in der er dargestellt wird - künstlerisch symbolischer Hinweis auf seine untergeordnete Rolle.
Die Frau links von Josef ist vermutlich Maria, Jesu Mutter. Bei ihrer Identifizierung orientiere ich mich an ihrem Heiligenschein. Der Gekreuzigte und die Frau am Sarg haben beide goldene Nimben, was ich als Hinweis der Verwandtschaft deute. Zärtlich hält sie die Schulter Jesu, während sich ihre Wange an seine schmiegt und sie ihn innig mit geschlossenen Augen an sich drückt. Eigentlich will sie ihn gar nicht loslassen und hergeben, will der Maler sagen, aber ihre schwachen Kräfte und der bereits geschehene Tod lassen es nicht anders zu.
Über den Köpfen von Jesus und Maria erscheint eine weitere Frauenfigur, die wir am linken Rand des siebten Segments sehen. Sie hält sanft den Kopf des Verstorbenen umfangen und stützt den Leichnam bei der Grablegung. Der rote Nimbus des Engels am oberen linken Bildrand gibt einen Hinweis darauf, dass diese Person ganz links im Bild keine biblische Figur ist und schon gar keine historische, sondern es ist eine Figur, die vom Maler in das Bild eingefügt wurde, um der Bildaussage zu dienen und die Komposition zu stützen.
So hat der Maler sich mit dieser Figur auch keine große Mühe gemacht, ihr den Anschein zu geben, sie sei ein Mensch aus Fleisch und Blut, denn der Körper unterhalb der Schultern wird nur angedeutet, aber nicht in allen Einzelheiten gemalt. Es ist ein Engel, der das ausführt, was Maria vor Schmerz und Trauer nicht leisten kann, nämlich den Verstorbenen zu den Toten zu betten. Die aufrecht stehende Frau in der Bildmitte ist nun allerdings kein Engel, sondern eine biblische Figur, von der die Evangelisten uns berichten, vermutlich Maria Magdalena. Ihre Hände sind verkrampft, die Augen blicken traurig nach unten auf den Leichnam. Ihr Mund wirkt angespannt, gleich so, als bebe sie vor Entsetzen. Den schwarzen Heiligenschein vermag ich nur schwer zu deuten. Soll das tiefe Schwarz ausdrücken, dass sie am meisten leidet?
Die Figur neben Maria Magdalena ist wieder keine reale menschliche Person, was zum einen durch den roten Heiligenschein deutlich gemacht wird, den diese Person trägt, zum anderen durch die bereits erwähnte Tatsache, dass auch hier der Körper nur angedeutet ist. Auffällig ist, dass sie demonstrativ vom Geschehen wegschaut - Desinteresse am Tod Jesu? Fragen wir auch hier: Wer ist sie eigentlich, diese Person oder vielmehr: Wer soll sie sein?
Ich möchte diese Figur, die aus der Maria Magdalena herauszukommen scheint, gerne als den anderen Teil der Maria Magdalena interpretieren, gleichsam als das alter ego der Maria Magdalena. Es ist die Maria Magdalena, die am Ostermorgen die frohe Botschaft der Auferstehung erfährt und aufgrund dessen den Blick hinaus in die Ferne und in die Zukunft schweifen lässt und wenn nicht fröhlich, so doch zuversichtlich ist und auch ohne das Liebste, das sie hatte, weiterleben kann. Gerade in dieser Figur, die wegblickt vom Leichnam und vom Sarg kommt für mich die angedeutete Osterbotschaft des Retabels am eindrücklichsten zum Tragen.
Auf der anderen Seite des Sarges, sozusagen auf „unserer“ Seite, auf der Seite des Betrachters ist der Stifter des Retabels, ein gewisser Folpertus, dessen Herkunft wir nicht genau kennen, abgebildet. Grün und rot sind auch die Farben seines Gewandes. Anbetend, ehrfürchtig erhebt er seine Hände zum Gekreuzigten, will ihn berühren und verehren zugleich und so etwas von dem Heil für sich erlangen, das er beim Gekreuzigten wähnt.
Das Bild enthält eine gemalte, symbolisierte Bewegung vom Rot des Leidens und des Todes zum Grün des Lebens und der Hoffnung. Diese andere Maria, diese „zukünftige“ Maria ist für mich das Sinnbild für Ostern, ohne das die Passionsdarstellungen nicht dem christlichen Miteinander von Kreuz und Auferstehung entsprechen würde.
Amen.
Pfarrer Sven Kepper, Wetter