Liebe Gemeinde,
Unter das Kreuz gezwungen - mit dem Kreuz unterwegs - im Fadenkreuz der Hingabe. Jede dieser drei Aussagen ist berechtigt, wenn auch eine jede aus einem anderen Blickwinkel getroffen ist. Die Frage „Was sehen wir?“ akzentuiert das Geschehen und lässt uns erkennen: Jesus, das Kreuz tragend, ertragend, bewäl-tigend. Die Szene der Kreuztragung gliedert sich deutlich: Doppelt diagonal durch die Richtung des Längsbalkens und des Querbalkens. Der eine wird später im Boden befestigt, der andere soll die Weite der Lebenslast halten. Parallel zum Querbalken verläuft die Lanze des Soldaten, Zeichen der Gewalt, die indirekt die Stimmung des ganzen Bildes bestimmt. Einen Abschluss nach oben hin setzt das Schild mit der bekannten Aufschrift I.N.R.I. Der Nazarener bleibt der Handelnde, indem er trägt, erträgt und das Leiden auf sich nimmt.
Je zwei Figuren rechts und links sind ihm zur Seite gestellt, symmetrisch angeordnet, auch die Höhe ihrer Köpfe stimmt überein. Hinter dem Soldaten mit Schild und Lanze ist, fast im Profil, ein Mann zu sehen, vielleicht ein Jünger, trauernd? Rechts hinter dem Barhäuptigen ein Mann mit einem Judenhut. Er ist einer von den Rechtgläubigen und erinnert mich an Menschen, die immer recht haben mit ihrem Glauben und ihren sittlichen Ansprüchen. Solche Menschen gibt es bis in christliche Gemeinden heute.
Es bleibt unklar, ob der Mann vorn rechts das Kreuz mitträgt oder nur mit dem Strick die Richtung nach Golgatha mitbestimmen möchte. Es ist derselbe Strick, der Jesus um den Körper gelegt ist und ihn festhält. Ist es die Hand eben dieses Mannes, die sich mit vier Fingern abzeichnet direkt unter der Stelle, wo sich die Balken treffen? Vielleicht doch Simon von Kyrene. Mir scheint das eher unwahrscheinlich. Denn dieser Mann trägt nicht, sondern erweckt nur den Anschein.
Aus der Welt Gottes schauen einzelne Engel als Zeugen, so als ob der Maler sagen wollte: Alles geschieht vor Seinen Augen. Auch die menschenverachtende Vorberei-tung einer Kreuzigung.
Was sehen wir? Was wollte der Maler, das wir sehen? Was hat er vorher gehört, das heißt: welchem Bericht, welchem Evangelisten folgt er? Ich vermute, die Darstellungen des Retabels lassen sich keinem Evangelium direkt zuordnen. Es gab über Jahrhunderte, während des ganzen Mittelalters, auch nach der Reformation, die Tradition der Evangelienharmonie. Aus allen vier Evangelien wurde ein Bericht über die Jesusgeschichte zusammengestellt, wobei sich Einzelheiten ergänzten und Widersprüchlichkeiten harmonisiert wurden. Das galt auch für die künstlerische Tradition. Mein persönlich verantworteter Glaube ist vielleicht auch eine solche Evangelienharmonie in einem weiteren Sinn. Denn ich nehme immer wieder verschiedene Aspekte der Jesusgeschichte wahr, verstehe sie ergänzend, lasse mich von dieser oder jener Einzelheit besonders ansprechen oder schiebe auch das eine oder andere Ereignis stärker in den Hintergrund.
Den Weg nach Golgatha kann ich nicht übersehen. In ihm und im Kreuz manifestiert sich der Wille zur Hingabe. Das Glaubensbekenntnis spricht davon. Sonntäglich heißt es „gelitten unter Pontius Pilatus“. Doch diese Szene im Zentrum des Retabels umfasst mehr als nur den Zeitraum, für den Pontius Pilatus verantwortlich zeichnet. Denn Leiden gehört zu Jesus von Anfang an dazu, nicht nur unter den Römern und ihren willigen Helfern, nicht nur unter Funktionären der Rechtgläubigkeit, ja sogar unter der Mutlosigkeit der eigenen Freunde hat er gelitten. Jesus hat in seinem ganzen Leben Formen des Leidens für sich angenommen. Es fing mit seiner Geburt an, mit seiner Inkarnation. Gott wird Mensch, und mit der Niedrigkeit des Menschseins stellt sich Leiden ein, Leiden an Unzulänglichkeiten, an Bosheit und Neid, an Unbeweglichkeit und Enge, die Menschen einander aufzwingen wollen.
Das nizänische Glaubensbekenntnis löst an entsprechender Stelle die Bindung des Leidens an die Person des Pilatus und lässt die Aussage „gelitten“ für sich stehen. Auch in dem geläufigen apostolischen Glaubensbekenntnis könnte anders bezogen werden. Und zwar: „geboren von der Jungfrau Maria, gelitten, - unter Pontius Pilatus gekreuzigt, gestorben und begraben.“ „Gelitten“, bezogen auf die Niedrigkeit Jesu, äußert sich in den Umständen seiner Geburt, in der Ablehnung in seiner Heimat, in der Erfahrung, dass Füchse Höhlen haben und Vögel Nester, er aber kein Zuhause, dass sich die Familie distanziert, weil sie nicht verstehen kann, wie ihm Fremde neue Geschwister im Leben werden.
Das Kreuz ist hier sichtbar, ist aber schon vorher ein unsichtbarer Begleiter Jesu. Er trägt es schon, als es noch gar nicht zu sehen ist. Als es ihm dann auch konkret begegnet, kann er es körperlich nicht mehr tragen, so dass ihm ein anderer zur Hilfe kommt. Am Ende stirbt er an ihm und überwindet es gleichzeitig, denn das Leiden veranlasst ihn nicht, seine Gottesliebe und sein Vertrauen aufzugeben. Das geschieht im Gegensatz zu uns, die wir Gott gern vorrechnen, was wir eigentlich verdient oder auch nicht verdient haben.
„Gesegnete Zeit, gesegnete Jahr’,
die Christus ging hier auf der Erde, geheiligt erfüllte Lebenstag’,
sein ist all Zeit unter der Sonne. Am Ziel steht das Kreuz,
das unsre und seins, das zeigt uns den aufgehn’den Morgen.“
Dekan Dr. Karl-Ludwig Voss, Cölbe