Andacht zur vierten Szene

Christus unterm Kreuz. Alle schützenden Zwischenräume zu den umgebenden Figuren sind aufgehoben. Christus wird von der Kreuzeslast gedrückt, von Fesseln nach vorne gezerrt und von hinten durch den Lanzenträger gestoßen. Der zweite Soldat, diesmal ohne Rüstung, auf der rechten Seite hinter dem Kreuz, mit dem Strick in der Hand schon auf die Kreuzigung vorausweisend, steht parallel zur Haltung des Christus. Wieder eine Spiegelbildlichkeit von Täter und Opfer. Hinter der Schulter Christi an der Kreuzung der Balken sind vier Finger einer Hand erkennbar. Die Hand gehört offenbar zu dem Mann mit dem Strick. Es scheint so, als wolle er das Kreuz übernehmen. Ist er nicht gerade im Begriff, seine eigene Schulter unter den Balken zu strecken? Ist dies also nicht nur ein Soldat, sondern eine Doppelfigur, die auch Simon von Kyrene meint? Denn dieser trug für Christus das Kreuz nach Golgatha. Einer solchen Deutung entspricht auch die Position an der Säule. Sie trennt nicht nur die Bildsegmente. Sie dient zugleich als Element der „Kulisse“. Denn der Ort, an dem man Simon zur Kreuztragung zwang, gilt in der Tradition als das Stadttor. Die Säule markiert dieses Tor. Und der mit Judenhut gekennzeichnete Mann dahinter entspricht einer dazu passenden Legende: Die Juden hätten Simon dazu gedrängt, das Kreuz zu tragen. Christus sei nämlich so geschwächt gewesen, dass sie befürchten mussten, er würde den Richtplatz nicht vor Abend erreichen. Wegen des Sabbats hätte die Kreuzigung dann nicht stattfinden dürfen. Wir wissen nicht, ob der Künstler wirklich eine Doppelfigur konstruiert hat, Soldat und Simon von Kyrene. Hat er vielleicht ohne großes Nachdenken Bildkompositionen wiederholt, die er von anderen Darstellungen kannte? Hat er dabei Figuren verwechselt? Wie auch immer man diese Frage beantwortet, die Komposition ist sehr bewusst gewählt. Deutlich sind die Parallele der Figuren und der Augenblick der Entscheidung: Christus trägt das Kreuz, das wir schon auf der Schulter eines anderen sehen möchten. Er trägt es für ihn. Und der Sünder sollte es ihm abnehmen.

Literaturhinweis

Die Broschüre "Das Retabel der Stiftskirche Wetter" ist im Buchhandel unter der ISBN Nummer 3-89477-930-6 erhältlich. Wir danken dem Verlag Evangelischer Medienverband Kassel.