Retabel Szene 2
Andacht zur zweiten Szene
Liebe Gemeinde,
mit fünf Personen hat der Maler Jesu Verhör vor Pilatus gestaltet. Hinzu treten die beiden übergroßen Engel, die in das Geschehen wie aus einer anderen Welt hineinschauen. Die Szene spielt sich im Portal ab. Pilatus sitzt erhöht auf einem Thron. Seine Haltung hat etwas Graziöses. Dieser Eindruck wird besonders durch seine gekreuzten Beine vermittelt, deren linkes deutlich sichtbar vor das rechte Bein auf die Spitze des Schuhs gestellt ist, fast wie bei einem Balletttänzer. Den Oberkörper hat Pilatus schräg nach hinten angelehnt. Er thront nicht aufrecht, sondern bringt schon in seiner Haltung zum Ausdruck, dass er als Stadthalter des Kaisers die Balance halten muss. Prüfend blickt er den an, der mit gefesselten Händen vor ihn gebracht wird.
Jesus steht mit bloßen Füßen vor Pilatus. Noch ist er in ein bodenlanges rotes Gewand gehüllt. Dunkle Haare, ein Bart umrahmen sein Gesicht. Er blickt auf Pilatus ebenso wie die Gestalt, die ihn am Oberarm ergriffen hat und vorführt. Dahinter ein zweiter Oberer des Volkes. Er schaut auf Jesus. So hat jeder der beiden, Pilatus und Jesus, seinen irdischen und seinen himmlischen Beobachter. Ein junger Mann tritt von rechts an Jesus heran und schlägt ihn mit der Faust. Was hat Jesus gesagt, um diese Reaktion hervorzurufen? „Und Pilatus fragte ihn: Bist du der König der Juden? Er aber antwortete und sprach: Du sagst es.“ (Markus 15,2)
Das Johannesevangelium erzählt diesen Dialog ein wenig ausführlicher: „Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und fragte ihn: Bist du der König der Juden? Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, oder haben dir’s andere über mich gesagt? Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast Du getan? Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt. Da fragte ihn Pilatus: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es. Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?“ (Johannes 18,33-38) Was ist Wahrheit? Gerne würde ich den Tonfall hören, mit dem Pilatus diesen Satz spricht. Wie meint er seine Frage: „Was ist (schon) (die) Wahrheit?“ oder „Was ist Wahrheit?“ oder „Was ist Wahrheit?“ Wer hat in Wahrheit die Macht? Der ohnmächtig gefesselte, ausgelieferte und vorgeführte Jesus von Nazareth, der sich von Pilatus befragen lassen muss: Wer bist Du? - Was ist Deine Mission? - Was ist Dein Lebensziel? - Was ist Deine Wahrheit? - Warum sind sie mit solchem Hass hinter Dir her?
Oder Pilatus, der mit kaiserlicher Gewalt ausgestattete Stellvertreter aus Rom, scheinbar mächtig und doch so abhängig von der öffentlichen Meinung? Eigentlich weiß er genau, dass er diesen Mann losgeben müsste. „Ich finde keine Schuld an ihm.“ (Johannes 18,38). Und doch wird er sein Mäntelchen nach dem Wind hängen. Nicht der von ihm erkannten Wahrheit wird er folgen, sondern dem Geschrei der Menge: „Nicht diesen, sondern Barrabas. Barrabas aber war ein Räuber!“ (Johannes 18,40)
So hat der Maler ganz recht, wenn er Pilatus zwar vornehm auf einem Thron sitzend darstellt, aber in seiner ganzen Haltung eine äußerst unsichere Position zum Ausdruck bringt. Dieser Mensch balanciert, tänzelt zwischen den Fronten. Das einzige, was ihn wirklich interessiert, ist, wie er seine Macht erhalten kann. Auch wenn die Stimme der Wahrheit aus dem Mund seiner eigenen Frau ihm zuflüstert: „Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten, denn ich habe heute im Traum seinetwegen viel gelitten“ (Matthäus 27,19b), wird er dieser Stimme doch nicht folgen. Der mächtige Pilatus versucht sich aus der Wahrheit herauszuhalten. Er versucht, seine Hände in Unschuld zu waschen, möchte am liebsten mit allem nichts zu tun haben.
Anders, ganz anders, der Gefangene ihm gegenüber zu seiner Rechten. Der ausgelieferte Mensch, gefesselt, ohnmächtig und doch frei, weil sein Leben einem Andern gehört.
Und wir?
Es ist schwer, im Spiegel der Passionsgeschichte all die menschlichen Reaktionsmuster zu sehen, die ja auch die unsrigen sind. Der ausgelieferte Mensch macht uns Angst. „Das widerfahre dir nur nicht“, sagt Petrus zu Jesus (Matthäus 16,22) und meint damit gleichzeitig: Das widerfahre mir nur nicht! Ist Unglück ansteckend? Manchmal verhalten wir uns so. Der Schwerkranke, der tief Trauernde erfährt, dass sich Menschen von ihm zurückziehen. Der Todkranke, der Verunglückte, der unter die Räuber Gefallene: Sie alle zeigen uns, welcher Bedrohung unser Leben ausgesetzt ist. Was bleibt von uns übrig, wenn alle Sicherheiten, alles, was unsere Menschenwürde schützt, fort ist? Nackt sitzt Hiob in der Asche, als ihm ein Schicksalsschlag nach dem andern fortnimmt, was er hatte und was er brauchte, um glücklich leben zu können. Zwar sind da gute Freunde, aber sie trauern nicht mit ihm, sondern sie versuchen zu erklären und zu begründen, was nicht erklärt und begründet werden kann. Ja, es ist schwer, einfach da zu sein ohne gute Ratschläge und gutgemeinten Trost. Einfach da zu sein und so den Schmerz des ausgelieferten Menschen, der wir ja auch selber sein könnten, auszuhalten.
Es ist schwer, im Spiegel der Passionsgeschichte all die menschlichen Reaktionsmuster zu sehen, die ja auch die unsrigen sind. Da wird der Mensch, dem die Hände gefesselt sind, geschlagen. Sogar ein Kuss kann ein Schlag ins Gesicht sein. „Mach etwas, tu etwas, rette dich, rette uns!“, so wird der ausgelieferte Mensch an vielen Stellen in der Passionsgeschichte aufgefordert. Sogar als er völlig hilflos nackt am Kreuz hängt, fordern ihn die Zuschauer auf: „Hilf dir nun selber“ (Markus 15,30). Natürlich ist das Spott. Natürlich ist das die schrecklichste Karikatur gutgemeinter Ratschläge. Aber auch ich entdecke - wenn ich nur lang genug hinsehe - dass hinter meinem Helfen wollen, meinen guten Ratschlägen oft die Angst vor der eigenen Hilflosigkeit steckt. Gewaltanwendung als Ausdruck von Ohnmacht und Hilflosigkeit, Sadismus als Abwehr der eigenen Schwäche - was wir im Spiegel der Passionsgeschichte über uns selber entdecken, möchten wir oft gar nicht so genau wissen. Ach, wenn wir doch glauben könnten, dass dieser ohnmächtige Jesus von Nazareth auch für uns gebeten hat, als er sagte: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lukas 23, 34)
Jesus steht vor Pilatus nicht wie ein Angeklagter. Er ist kein von Schuld gebrochener Mensch, sondern er steht vor Pilatus als Zeuge der Wahrheit. Die Wahrheit sitzt nicht auf einem Thron, sie spricht auch nicht aus der Stimme der Mehrheit. Sie hat keine gute Position und setzt sich nicht in Positur. Sie stammt aus einer anderen Welt, aus einem Reich, über das wir nicht verfügen, das uns aber immer wieder begegnet, manchmal im Traum, manchmal in einem lichten Moment, wo unser Herz zutiefst angerührt wird von der Stimme der Wahrheit. Gott gebe, dass wir ihr dann folgen, dass wir tun, was sie uns sagt, auch gegen die Mehrheit, auch gegen die Macht.
Amen.
Pröpstin Elisabeth Schoenborn, Marburg
Mit dem Spitzhut werden Juden gekennzeichnet, die vor Pilatus Anklage gegen Jesus erheben. Die Ankläger sind so aufgebracht, dass einem sogar der Hut vom Kopf fliegt. Pilatus bleibt gelassen. Mit seiner Krone wird er als Herrscher aus-gezeichnet. Jesus in aufrechter und vitaler Haltung strahlt ebenfalls königliche Würde aus. Zwei Herrscher begegnen sich. Pilatus, der mit überkreuzten Füßen gezeigt wird, entspricht in dieser Haltung dem Ideal der germanischen Rechtssprechung: Ein Richter hat sein Urteil in Muße zu fällen. Dies freilich macht seine Schuld im vorliegenden Fall nur größer. An Christus wird ein Justizmord begangen.