Liebe Gemeinde,
die „tollen Tage“ sind vorbei, heute, am Aschermittwoch, beginnt die Passionszeit. Sieben Wochen der Vorbereitung auf Ostern. In den letzten Jahren hat es eine Rückbesinnung auf alte Traditionen des Fastens in dieser Zeit gegeben. Viele Menschen, auch in unserer evangelischen Kirche, wollen diese Wochen der Passionszeit bewusst gestalten und erleben.
Zu einem bewussten Erleben der Passionszeit gehört es sicher auch ganz wesentlich, die biblischen Texte von der Passion Jesu in diesen Wochen auf sich wirken zu lassen. Dazu wollen uns in diesen Wochen die Bilder des Retabels helfen, die ihrerseits eine beeindruckende Auslegung der Passionsgeschichte sind - eine Auslegung, die uns die Passion Jesu als für uns geschehen und für unser Leben wichtig nahe bringen will.
Was uns der Evangelist Lukas als Auftakt zur Passion Jesu berichtet, das führt uns der Maler des Retabels vor Augen: Jesus gibt sich in die Hände der Menschen. Er, der täglich unter die Leute ging, um ihnen in wunderbaren Bildern vom Reich Gottes zu erzählen, wird in einer Nacht- und Nebelaktion verhaftet. Offensichtlich scheuen sich die Mächtigen, ihn am helllichten Tag zu verhaften - das Volk, das Jesus beim Einzug in Jerusalem mit „Hosianna“-Rufen gefeiert hat, ist unberechenbar. Es ist so unberechenbar, dass es schon am nächsten Tag rufen wird „Kreuzige ihn!“
Es scheint so, als würde in dieser Nacht des Verrats nicht mehr gelten, was Jesus gepredigt hat: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen“ (Matthäus 5,5). Die Fakten, die uns hier vor Augen stehen, sprechen eine andere Sprache. Willkür und Gewalt, die das Tageslicht scheuen, scheinen die Oberhand zu gewinnen.
Die Botschaft Jesu wird ins Gegenteil verkehrt: Ein Kuss, Zeichen der Liebe und der Freundschaft, wird ins Gegenteil verkehrt. Der Kuss wird zum Zeichen des Verrats. Und doch kann Jesus es nicht lassen, dieser Welt, wie sie nun einmal ist, seine Botschaft entgegenzusetzen: Als einer seiner Jünger dem Knecht des Hohenpriesters das Ohr abschlägt, verurteilt Jesus diese Gewaltanwendung. Wir sehen den Geschlagenen und von Jesus Geheilten am Boden liegen.
Die Passion nimmt ihren Lauf: Die rechte Hand Jesu weist über diese Anfangs-szene hinaus - in die nächste Szene des Bildes, ins Geschehen der Passion hinein. „Dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.“ Jesus gibt sich in die Hände der Menschen und die Dinge nehmen ihren Lauf.
Wir sind es gewohnt, die Dinge vom Ende her - das heißt: von Ostern her - zu sehen. Und das ist ja auch richtig so. Aber heute, am Anfang der Passionszeit, gilt es erst einmal diese andere Perspektive ernst zu nehmen und auszuhalten: Jesus gibt sich in die Hände der Menschen und die Dinge nehmen ihren Lauf. Ein unheilvoller Lauf der Dinge, der im Tod am Kreuz endet. Und dass dieser Lauf der Dinge, der in Gottverlassenheit und Tod endet, sich im Nachhinein als heilvoller Weg ins Leben darstellt, das erkennen wir erst im Licht des Ostermorgens.
Aber das darf uns nicht dazu verführen, diese fremde und abstoßende Seite der Geschichte zu verharmlosen: Die Erfahrung der Gottverlassenheit und die erschreckende Macht des Todes dürfen nicht vorschnell übersprungen werden. Diese Seite der Passion will wahrgenommen und ernstgenommen werden - auch wenn es uns schwer fällt, weil es vielleicht Erinnerungen an eigene Erfahrungen der Gottverlassenheit und der Todesbegegnung freisetzt.
Das Geschehen der Passion, das hier seinen Anfang nimmt und am Kreuz endet, dieses Geschehen wird durch den Ostermorgen nicht einfach rückgängig gemacht. Sondern das Leben des Ostermorgens gibt es nur durch Leid und Tod hindurch.
Leid und Tod gehören zu unserem Leben hinzu. Man kann die Augen davor verschließen, sie werden uns dennoch irgendwann einholen. Diese Wochen der Passionszeit laden uns dazu ein, den Leidensweg Jesu mitzugehen. Diese Wochen laden uns dazu ein, an der Seite Jesu den Blick auch auf das Leid um uns herum zu wagen. Wo es uns möglich ist, sind wir gerufen zu helfen. Wo es uns nicht möglich ist zu helfen, dürfen wir fürbittend vor Gott treten. Und vor allem dürfen wir wissen: Dem Gott, der in Jesus Christus Leid und Tod auf sich genommen hat, ist kein menschliches Leiden und keine menschliche Not fremd. Amen.
Pfarrer Dr. Frank Hofmann, Wetter